Bei David Camerons Referendum geht es nicht nur um die EU. Weil David Cameron Europa an sich ablehnt.
In einer Grundsatzrede macht Großbritanniens Premierminister David Cameron Europa zum Fokus seiner ideologischen Selbstpositionierung. Er kündigt an, seine Bevölkerung über den Verbleib das Landes in der EU abstimmen zu lassen. Dass es so kommen würde, zeichnete sich seit langem ab. Als ich vor zehn Jahren nach England zog und ganz nebenbei und unschuldig sagte, wie sehr ich mich freue, nach einem amerikanischen Jahr wieder in Europa zu sein, stieß ich auf eisiges Schweigen. Dieses Schweigen hat heute wieder eine laute, politische Stimme.
Doch geht es Cameron um mehr. Das zeigt der Schriftzug, vor dem er seine Rede hielt: „Britain and Europe“ stand da. Nicht etwa: Britain and the EU. Cameron tut so, als kritisiere er nur die mangelnde Reformfähigkeit der EU-Institutionen. Aber seine Regierung verteufelt ebenso heftig den Europarat, der mit der EU nichts zu tun hat, und die Europäische Menschenrechtskonvention, also die Grundlagen des europäischen Zusammenlebens. Was an deren Stelle treten soll, verkündete der Schatzmeister von Camerons konservativer Partei, der Hedge-Fund-Manager Lord Fink, im November: Großbritannien solle seine Gesetzgebung an den Cayman Islands, einer karibischen Steueroase orientieren.
Indem Cameron die EU-Mitgliedschaft seines Landes in Frage stellt, wendet er sich vom Grundwert der Solidarität ab. Er spielt das vermeintlich rechtschaffene, hart arbeitende und stolze Großbritannien gegen die vermeintlichen Betrüger, Umverteiler und Illusionäre auf dem Kontinent aus. Und er tut so, als spräche er für die Mehrheit aller Briten. Aber sein Kabinett der Millionäre vertritt allenfalls eine immer radikalere Minderheit im Großraum London, die dank des Verhältniswahlrechts eine knappe Parlamentsmehrheit zustande brachte.
Camerons Kampf gegen europäische Werte und Institutionen ist Teil eines Klassenkampfes zu Hause. Gesundheitsminister Jeremy Hunt (Privatvermögen 4,7 Millionen Euro) setzte durch, dass Familien mit mehreren Kindern weniger Sozialleistungen erhalten, da der Staat die Kombination aus Faulheit und Schmarotzertum nicht unterstützen dürfe. Das betraf nur eine winzige Zahl von Familien, aber die allgegenwärtige, unsolidarische Politik ist dieselbe, die britische Regierungen von Thatcher über Blair bis Cameron im Umgang mit den Werten und Mechanismen Europas vertreten.
Hinter der Rhetorik über die europäischen Finanzen verbirgt sich ein egozentrisches Weltbild, hinter der Rhetorik über die europäischen Werte verbergen sich handfeste finanzielle Eigeninteressen.
Mir macht diese Entwicklung Sorgen. Ich bin, um es einmal ganz pathetisch zu sagen, ein Kind der europäischen Verständigung. Ohne sie hätten sich mein elsässischer (französischer!) Vater und meine hessische Mutter wohl nie kennen gelernt. Ohne sie gäbe es mich nicht. Der deutsche Dichter Stefan George, über den ich ein Buch geschrieben habe, empfing seine entscheidenden Anregungen in Frankreich und pries das „dulce France“, das alte Franken vor der Teilung in Deutschland und Frankreich, das nun endlich am politischen Horizont wieder aufscheint. Mein Partner ist halb Deutscher und halb Brite, auch das ein Ergebnis europäischer Annäherung. Ohne sie gäbe es ihn auch nicht. Während ich mich aber gern als Sohn von de Gaulle und Adenauer bezeichne, musste sich mein Partner in der Schule als „Little Hitler“ beschimpfen lassen, und das obwohl er, anders als der „Führer“, blauäugig und gutherzig ist.
Britische Meinungsführer traten nie beherzt für das Europa des Friedens und der kulturellen Vielfalt ein. Deutsche und französische dagegen ließen das, was immer im Mittelpunkt der europäischen Bewegung stand, nämlich die Verankerung des europäischen Gedankens in der Lebenswirklichkeit, zur fühlbaren Realität der Bürger werden. Das stellt David Cameron ausgerechnet am 50. Jahrestag des Elysée-Vertrags in Frage. Wir können nur hoffen, dass die Briten die Existenz in Europa einer Existenz am Rande Europas vorziehen werden.