Schon wer sich die Stichworte Ernst Jünger und die Schoah vor Augen führt, erkennt: Jünger ist kontrovers. Aber Ernst Jünger als „kontroversen“ Autor zu bezeichnen, wie es so oft geschieht, ist eigentlich nicht ganz schlüssig. Der Krieger-Autor hat, jedenfalls nach 1932, die Kontroverse nicht gesucht; seine Werke sind keine lustvoll provokativen „Interventionen“, wie man sie von Grass, Frisch oder Böll kennt. Er war weniger ein Mann der Kontroverse als der stillen Reserve (so Lothar Bluhm). Und viele mediale „Jünger-Kontroversen“ waren von großer Einmütigkeit (der Ablehnung) geprägt. Jünger kontrovers zu nennen ist ein Weg, auf diplomatische Art und Weise zu sagen, dass man ihn ablehnt.
Die Kontroverse gesucht hat dagegen der Interviewkünstler André Müller, der alles daran setzte, seine Gesprächspartner aus der Reserve zu locken. Das endete nicht selten in Streit, Beschimpfungen oder sogar juristischen Auseinandersetzungen, brachte Müller jahrzehntelang aber auch Bewunderung ein. Ein Treffen Ernst Jüngers und André Müllers musste also schwierig werden, zumal es Müller darauf anlegte, Jünger zum Thema Schoah zur Rede zu stellen. Trotzdem fanden nach dem Interview, das Müller mit Jünger 1989 für Die Zeit führte, 1990, 1991, 1993 und 1996 weitere Treffen statt. Die Begegnungen von 1989, 1990 und 1993 sind durch Tonbandaufnahmen dokumentiert. Ich habe diese Materialien 2015 in einer umfangreichen Edition aus dem Nachlass André Müllers erschlossen.
Auf dem Symposium der Ernst und Friedrich Georg Jünger Gesellschaft 2016 im Kloster Heiligkreuztal bin ich in einem Vortrag der Frage nachgegangen, wie Müller provoziert und ob Jünger sich provozieren lässt. Ich habe den Themenkomplex Judentum/Schoah, wie er in den Gesprächen zwischen Jünger und Müller zur Sprache kommt, innerhalb gesellschaftlicher Debatten, auch über Jüngers Person und Werk, eingeordnet. Es zeigte sich, dass eine solche ideengeschichtliche Verortung gegenüber dem Gesprächsgeschehen und den Gesprächsinhalten zu kurz greift. Deshalb habe ich die Perspektive auf Jüngers Werk und auf die konkrete Gesprächssituation hin erweitert.
Die Schoah spricht Müller 1989 an zwei zentralen, argumentativ miteinander verbundenen Punkten an. Er fragt Jünger, ob „ein Jude in der Gaskammer die Freiheit hätte bewahren können, indem er die Situation beobachtet“, und er stellt Jüngers Optimismus auf die Probe, indem er fragt, ob nicht auch „das 6-Millionen-Opfer der Juden Sinn hatte“, wenn man, wie offenbar Jünger, annimmt, dass alles in der Welt einen Sinn hat. Die beiden Fragen sind für den europäischen, öffentlichen Diskurs eine Provokation, denn sie scheinen die Erfahrungen vieler Schoah-Überlebender sowie zentrale Aussagen von Autoritäten im Umgang mit dem Thema zu ignorieren.
Die beiden Fragen sind eine Provokation – Jüngers Antworten sind es nicht. Jünger antwortet auf die erste, nach der Freiheit des Häftlings, zunächst, „theoretisch gedacht“ sei dieser aufgrund seiner Fähigkeit zur Beobachtung „ohne Zweifel“ frei gewesen; er nimmt diese Aussage aber sofort zurück und sagt, der ganze Themenkomplex sei „mit großer Behutsamkeit zu berühren“. Im Hinblick auf einen möglichen Sinn der Schoah sagt er, sehr langsam, nur, das seien „sehr schwierige Fragen“. Auch er verneint die Frage nicht, denn er kann sich gar nicht dazu durchringen, sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Meinen Vortrag, der sich eingehend mit der Problematik der Gespräche über die Shoah beschäftigt, habe ich zu einem Aufsatz umgearbeitet, dessen erster Teil im neuen Jünger-Jahrbuch Jünger-Debatte erscheinen soll.