Seit einigen Monaten treten Menschen an die Öffentlichkeit, die über sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch von Seiten Wolfgangs Frommels und seines Umfelds berichten. Aufgeworfen wird in umfangreichen Medienberichten in diesem Zusammenhang die Frage, ob entsprechende Praktiken auch in dem für Frommel maßgeblichen George-Kreis vorkamen und warum sich, wie bereits im Fall der Odenwaldschule, sexuelle Gewalttäter auf Stefan George beriefen. Die Vorfälle, die aus Frommels Castrum Peregrini berichtet werden, sind zutiefst verstörend, und ich bin darüber entsetzt.
Zwei Dinge sind nun wichtig:
Erstens müssen Gewalttaten zwingend aufgearbeitet werden. Ziel muss es sein, dass Opfer Gehör finden, Straftäter identifiziert und, so sie noch leben, zur Rechenschaft gezogen werden; und es muss deutlich werden, dass sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch geächtet werden. Dieser Prozess darf nicht behindert werden. Es darf keine Verharmlosung oder Vertuschung von Gewalttaten und keinen Versuch der Diskreditierung von Opfern geben.
Zweitens müssen Rechtfertigungsstrategien aufgearbeitet werden. Es muss klar werden, wie und warum sich sexuelle Gewalttäter auf George beriefen: Wer hat sich in welchem Aspekt seines Tuns auf welche Werke und welche Vorbildhandlungen bezogen?
Über Stefan Georges Biographie und die Geschichte seines unmittelbaren Umfelds gibt es in dieser Hinsicht keine neuen Erkenntnisse, das hat der Präsident der Stefan-George-Gesellschaft, Prof. Dr. Wolfgang Braungart, in einem Rundschreiben kürzlich festgestellt; doch wird die Debatte über George im Jahr seines 150. Geburtstags durch die Frage nach Gewalttaten und Rechtfertigungsstrategien in seiner Nachfolge bestimmt, die nun untersucht werden müssen.
Für den 23. Juni 2018 hatte ich nach Heidelberg eingeladen, um im Gespräch mit Freunden, Kollegen und einer interessierten Öffentlichkeit gerade die schwierigen Aspekte von Stefan Georges Werk und Rezeption zu untersuchen.
Ich habe mich auf Basis der angesprochenen Berichte, einer großen Anzahl von Gesprächen, die ich in den letzten Wochen geführt habe, und nach vielen E-Mails entschlossen, diese Veranstaltung abzusagen, und zwar aus zwei Gründen, die ich im Folgenden darlegen möchte und mit denen ich zwei Aufgaben formulieren möchte. Meine Einladung ist auf eine enorme Resonanz gestoßen, für die ich sehr dankbar bin und die mir einen Denkprozess ermöglicht hat, zu dessen Ergebnissen diese Absage gehört.
Der erste Grund für die Absage ist, dass die Aufarbeitung der Vorwürfe gegen Wolfgang Frommel nicht im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung geschehen kann und von Zeitzeugen und Fachleuten aus vielen Bereichen in sorgfältiger Zusammenarbeit mit den Opfern in Ruhe vorangetrieben werden muss.
Der zweite ist, dass die Frage nach den Bezugnahmen höchst verschiedener Gruppen und Einzelner auf Stefan George sich nicht nur „von George aus“ beantworten lässt. Hier müssen neben George-Forschern auch Kenner und (ehemalige) Mitglieder der entsprechenden Gruppen dabei sein, Vertreter verschiedener, für den jeweiligen Kontext relevanter wissenschaftlicher Fachrichtungen, zivilgesellschaftlicher Gruppen sowie, wo es um Minderjährige geht, Vertreter des Kinderschutzbundes – damit im Ergebnis sowohl Aufarbeitung als auch Prävention geleistet werden; damit die Vielfalt der Bezugnahmen und der möglichen Bezugnahmen auf Stefan George sorgfältig profiliert wird; und damit Risiken klar definiert werden.
Dieser Prozess ist komplex, und zwar auf mehreren Ebenen: in der Art und Weise, wie er Fragen und Begriffe formuliert, wie er einen Konsultationsprozess entwirft und moderiert, wie er Erwartungen an mögliche Ergebnisse definiert und wie er diese Ergebnisse, auch vor dem Hintergrund bisheriger Erkenntnisse zu Stefan George, zur Diskussion stellt – weshalb auch Medienvertreter hizugezogen werden müssen. All dies muss ebenfalls ruhig und konzentriert angegangen werden, denn es geht um Vorgänge von großer Tragweite. Eine öffentliche Veranstaltung ist auch hierfür kein geeigneter Ort, keineswegs in einem so frühen Stadium.
Die George-Forschung gerade in der Vielfalt und Tiefe, die sie in den letzten Jahrzehnten gewonnen hat, kann in einem solchen Multi-Stakeholder-Prozess wichtige Beiträge leisten, besonders indem sie Entwürfe und Praktiken von Gemeinschaft nachzeichnet. Auch zur Rezeptionsgeschichte hat sie in den letzten Jahren wichtige Bausteine geliefert (siehe zum Beispiel hier und hier). Sexualität und Macht sind weitreichende und risikoreiche Themen. Hier gibt es viele offene Fragen, und ich will mithelfen bei dem Versuch, diesen Prozess verantwortungsbewusst zu gestalten.