Tag 1
Kurz vor dem Eröffnungsplenum proben wir als Akademie- und Kursleitung (AKL) unser Begrüßungslied, eine abgewandelte Fassung von ABBAs „Waterloo“. Dörte fragt, wie wir die letzte Refrainzeile singen, mit deutsch oder englisch ausgesprochenem erstem Buchstaben, also „Wa-wa-wa-wa- oder Ua-ua-ua-ua-Waldenburg“? Wir entscheiden uns für letzteres. Jens, eifrig: „Das ist ja auch historisch so belegt.“
Tag 2
AL-Büro. Hartmut, geistesabwesend: „Ich hab mit einer von euren Teilnehmerinnen gesprochen, und die hat mich dann gefragt, ob sie nochmal in die Stadt darf.“
„Aha. Und?“
„Ich hab Ja gesagt. Mit ner 3 in Geographie kommt sie eh nicht so weit.“
Tag 3
Wir als AKL müssen dafür sorgen, dass die Teilnehmer es nicht übertreiben. Sie sollen ihre Grenzen austesten, aber wenn jemand komplett durch ist, eskortieren wir ihn im Zweifelsfall in sein Zimmer, damit er schläft. Na ja. Jetzt sitze ich erstmal mit Theresia, Friederike und Simon im Kopierraum, und alle sind bei Sinnen und gut drauf. Es geht auf halb drei. Mitten in der Nacht. Wir sprechen über die Bedeutung der Taufe in der frühen Kirche, dann über Nutella und Marmite. Ich gehe irgendwann, sage Miriam aber noch, dass sie ein Auge auf die drei werfen soll, weil es schon spät ist. Sie sagt sofort, dass sie sich um sie kümmern wird – „Soll ich denen noch einen Kaffee kochen?“
Tag 4
Plenum. Eine Teilnehmerin: „Können wir das Vokalensemble um 19.30 machen?“ – Dörte: „Nein, da hab ich Orchester. Und du auch!“
*
Im Musikkurs trägt Johannes über Tschaikowskys Ouvertüre 1812 vor. Ich halte das für unangmessen: am Tag des WM-Finales, Frankreich gegen Kroatien, spricht er über eine französische Niederlage in Russland! Doch die Geschichte wiederholt sich nicht.
Tag 5
Der Musikkurs beschäftigt sich mit unterschiedlichen Hörertypen. Hört man anders, wenn man weiß, was in einem Konzert als nächstes auf dem Programm steht? Hört man anders, wenn man die Instrumente sieht? Wenn man das Stück schon kennt? Wenn man vorher weiß, dass überhaupt Musik gespielt werden wird? Was ist eigentlich ein Ton? Sind Geräusche auch Musik? Welchen Effekt haben die Lontano-Instrumente bei Gustav Mahler?
Wir begeben uns auf eine kleine Wanderung. Vom Kursraum aus gehen wir auf leisen Sohlen durch die Gänge. Die Teilnehmer haben Zettel und Stift dabei und horchen in die Stille. Vor dem Kursraum von 2.6 bleiben wir stehen. Ein paar Knöpfe werden gedrückt, dann hört man drinnen ein Telefon klingeln. Und nochmal. Dann erklingen einige Takte Klaviermusik, jenes Ligeti-Stück, das aus Kubricks „Eyes Wide Shut“ bekannt ist. Schließlich das schreiende Geigenmotiv aus dem Film „Psycho“. Geographiekurs-Teilnehmer reißen die Tür von innen auf und treffen auf unseren Musikkurs, der interessiert die Reaktionen der Überraschten notiert und die Tür dann wieder schließt, damit die Studie weitergehen kann. Wir hören, wie das nächste Stück erklingt, Numminens Vertonung von „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, das alsbald zu unserer Kurshymne avanciert.
Offenbar wird die Bluetooth-Box, die wir hinter der Tafel versteckt hatten, gefunden, und so kehrt wieder Stille ein. Wir gehen bedächtig zurück zu unserem Kursraum und werten die Übung mit der gebotenen Sachlichkeit aus – Aufführungsbedingungen, Vorwissen, Antizipation, Neuerungen im Kulturbetrieb etc. Schließlich bitten Jens und ich die Teilnehmer um ein Resumee. Charlotte sagt zögerlich, aber mit dem Hauch eines Lächelns: „Es war lustig. Wir haben sie geprankt.“
Tag 6
Exkursion. Wir fahren mit dem Bus nach Glauchau, um nach Waldenburg zurückzuwandern. Nach ungefähr drei Metern hat Florians Rolli einen Platten. Jens geht in den Fahrradladen, um den Reifen reparieren zu lassen, während wir anderen im Glauchauer Schloss warten wollen.
Ich bin auf gar nichts vorbereitet, will den TN keine Führung und keinen Museumsbesuch aufzwingen. Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, und so stehen wir etwas verloren im Innenhof herum. Aber es geht auch keiner shoppen. Ich stelle meine Standardfrage: „Woran sehe ich, wo ich bin?“, um ein bisschen den Sinn für lokale Architektur zu schärfen. Antworten habe ich in diesem Fall aber auch nicht.
Da fängt Sebastian an, auf Giebelformen hinzuweisen, ein Fenstersims zu charakterisieren, das Türmchen zu beschreiben. Die anderen hören gespannt zu, es gibt die eine oder andere Frage. Einer schlägt vor, dass wir aus der prallen Sonne gehen und uns ein paar Schritte weiter hinsetzen. Die Teilnehmer setzen sich in einen Kreis, nur zwei nehmen sich ihre Handys heraus. Die anderen lauschen, Sebastian spricht über regionale Unterschiede bei Laternen, Bürgersteigen, Straßenschildern. Alles ohne Vorbereitung. Hier und da bringt jemand eine Beobachtung aus seiner Heimat an, und es entspinnt sich ein unerwartetes Fachgespräch.
Eine Stunde vergeht wie im Flug, Jens kommt mit geflicktem Reifen, und die eigentliche Wanderung kommt mir wie ein Nachgedanke vor.
Tag 7
Gehe zu früh ins Bett, weil ich die Uhr im AL-Büro falsch abgelesen habe. Mein Handy zeigt an: Alarm in 6 Stunden 34 Minuten. Das ist absurd. Ich beschließe, morgen vor dem Frühstück mitzujoggen. Damit ist Zeit gewonnen. 5 Stunden 44 Minuten – schon besser.
Tag 8
Die DSA ist eine seriöse Bildungseinrichtung, die sich Leistung und Wettbewerb auf die Fahnen geschrieben hat. Zu Bildung und Forschung gehört, dass neue Fragen aufgeworfen werden. Zum Beispiel: Warum lehne ich mich morgens minutenlang mit der Stirn gegen mein Hochbett? Warum kommt mir jemand mit einem Cello aus der Turnhalle entgegen? Warum ist meine eine Sandale im Internat und die andere im Schulhaus?
Tag 9
Kurz vor Beginn des Teammeetings. Stress. Hartmut, todernst, hält Konrad ein Stück Obst entgegen: „Weißt du irgendwas über diesen Apfel?“
Tag 10
Dörte kämpft mit der Müdigkeit. In den ersten Tagen kam sie ins Bad, während ich mir die Zähne putzte. Heute gehe ich schon wieder raus, ohne dass sie überhaupt aufgetaucht ist. Auf dem Gang sehe ich, wie sie sich gegen eine Tür schiebt, die sie eigentlich ziehen müsste. Ich bin ihr behilflich, mache die Tür auf, sie starrt mich mit leeren Augen an: „Die Tür ist kaputt.“
Tag 11
Clara und ich schießen während Urbans Vortrag zur Stringtheorie aus der letzten Reihe heraus mit einer Wasserpistole Teilnehmer ab. Erst die direkt vor uns, dann die etwas weiter vorn sitzenden, schließlich sogar Nils, der drei Plätze neben uns sitzt. Christina dient uns als willkommene Deckung. Wir laden sogar einmal nach, mit Wasserflasche und daruntergehaltenem Glas, damit nichts verschüttet wird. Luca merkt es irgendwann. Er fängt an, wie wild auf seinem Handy herumzutippen und schaut immer wieder zu uns zurück. Alarmiert er die anderen über WhatsApp? Einige drehen sich um, aber nicht so viele, dass ich wirklich ahne, was los ist. Nachher erklärt er mir nassforsch, er habe zwei Wasserpistolen auf Amazon bestellt.
Tag 12
Jaha, wir haben die beiden Runden Capture the Flag gewonnen! Wir feiern. Urban und ich machen Wettrennen zurück Richtung Schule. Nach hundert Metern drehe ich mich um, weil ich sehen will, wie weit ich vorne liege. Und zwar gerade an einer hohen Bordsteinkante. Und dann liege ich vorne.
Nachher muss ich wegen dem angeblichen Bänderriss ein Formular ausfüllen. Unfallhergang? „Dumm gelaufen.“
Tag 13
LGBTQ-KüA. Unter der Prämisse der „Sichtbarkeit“ von Lebensstilen, Haltungen und Eigenschaften anmoderiert. Ein wirklich bewegendes Gespräch entspinnt sich, weil alle Beteiligten ihre Meinungen und Erfahrungen klar formulieren, diese deutlich auseinanderliegen und die Gesprächsleitung dafür sorgt, dass klar wird, wo man sich widerspricht und wo nicht, wo Konflikte entstehen könnten und wo nicht. Ohne die provokante erste Meldung wäre ein so gutes Gespräch nicht zustande gekommen: „Es gibt nur zwei Geschlechter, und früher ging der Mann auf die Jagd, da war alles klar.“ Diesen Ball nehmen andere auf und fragen, ob Orange nicht auch orange sei, wenn es kein Wort dafür gebe. Und wen es denn störe, wenn jemand anders sei als man selber.
„Wenn sich zwei Schwule küssen und ich kann nicht wegschauen, fühle ich mich schon bedrängt.“ – „Wie muss die Situation denn aussehen, dass du nicht wegschauen kannst?“
Schließlich die Frage, wer am Tisch denn LGBTQ sei. Konrad und ich geraten in Anspannung – auch wegen dieser möglichen Eskalationsmomente hatten wir uns als AKL entschieden, ein Auge auf die Diskussion zu werfen. Etwa die Hälfte derer, die am Tisch sitzen, melden sich, und das Gespräch läuft konstruktiv weiter. So was wäre vor zwanzig Jahren komplett undenkbar gewesen.
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Hartmut, empört, an seinem Schreibtisch: „Diese scheiß Metan-irgendwas, die schreiben überhaupt nicht!“
Tag 14
Leute, denen man Gute Nacht gesagt hat, sitzen einem zwei Stunden später plötzlich wieder in der Mensa gegenüber.
Irgendjemand singt beim Pokerspielen „Happy Birthday“. Wer hat denn Geburtstag? Ich zeige auf David. Alle singen „Happy Birthday“ und freuen sich. Das hören außerhalb der Mensa nun wieder andere. Sie fragen mich nachher; ich sage, David. Simon geht in die Mensa und singt ihm aus vollem Hals und aus voller Seele ein Ständchen. David schmunzelt, sagt aber weiter nichts. Eine halbe Stunde später (es ist halb drei) ist die AL in Aufruhr – wie konnten wir einen Geburtstag verpassen? Dörte nimmt sich der Sache an und singt, völlig übermüdet, ein Udo-Jürgens-Lied, wobei sie nach der x-ten Strophe bald zusammenbricht. Ich sage, ihre Sangesleistung wäre noch beeindruckender, wenn David tatsächlich Geburtstag hätte. Sie schlägt mich. Am nächsten Morgen lässt Hartmut im Plenum alle nochmal „Happy Birthday“ singen. David schmunzelt, sagt aber weiter nichts. Dann kriege ich den Komantschen, unser Straf-Tamagotchi, weil ich „Davids Geburtstag erfunden habe“.
Tag 15
Im Team besprechen wir, dass wir die Mikrofonanlage in der Kirche prüfen müssen, damit sie bei Hartmuts Eröffnungsrede im Konzert funktioniert. Dörte: „Aber bitte nicht länger als 10 Minuten reden!“ Hartmut: „Also gut, dann lass ich den Teil über Dörte weg.“ Dörte: „Das mit dem Glücksfall für die Deutsche Schülerakademie?“
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Dörte ist deprimiert, wenn sie an das kommende Konzert denkt. Im AL-Büro sagt sie verzweifelt, es werde alles schiefgehen. Die Proben seien nicht richtig gut gewesen, viele Leute hätten immer wieder gefehlt, und einiges, was sie selber machen wollte, kam unter die Räder. Arne, Clara und ich wollen sie in den Arm nehmen. „Machen wir Gruppenkuscheln?“ So machen wir’s. Nach gefühlten 0,7 Sekunden sagt Arne sehr sachlich: „Ich muss leider los.“
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Die Raketenbauer sind unten im Chemieraum tätig. Lukas und Arvid streuen weißes Pulver (eine Kaliumnitrat-Zucker-Mischung) auf grüne Papierservietten, schön als Linie. Die Servietten werden mit Pattex verklebt. „Maultaschen“ als Raketenantrieb. Lukas läuft hinter dem Arbeitstisch hin und her. Plötzlich ein komisches Geräusch. Er bleibt stehen. Wir schauen ihn an. „Ich kann jetzt meinen Fuß nicht mehr bewegen. Sagt meiner Mutter … Nein, nur Spaß!“ Zacharias tigert während dessen durch den Raum und singt „Winterreise“. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“ Stammt der Text von Mesut Özil?
Tag 16
Der Musikkurs singt Jens und mir zum Abschied den irischen Reisesegen. Dann stehen wir alle wie traumatisiert im Raum, starren auf unsere Füße, stieren aus dem Fenster, wissen nicht so recht, wohin mit uns. In die Stille setzt sich Arvid an den Flügel und singt leise ein Kirchenlied (nach Psalm 121). Das hilft, dass wir uns alle wieder sammeln.
Tag 17
Die Teilnehmer sind abgereist, die AKL sitzt in einem indischen Restaurant in Meerane. Hartmut, Dominik, Miriam und Konrad schauen die Dankeskarten an, die wir KL ihnen geschrieben haben. Auf Hartmuts ein Foto: die vier, wie sie aus der Schule laufen, und über Hartmut eine Sprechblase. Christina fragt mich, was da steht. Ich sage, wahrheitsgemäß: „Was müssen das für Bäume sein …“ Ich habe es kaum ausgesprochen, da fängt der halbe, müde vor sich hinstarrende Tisch an, ganz leise zu singen: „… wo die großen Elefanten spazieren gehen, ohne sich zu stoßen.“ Dann herrscht wieder Dämmerstille, und alle starren müde vor sich hin.
Wieder in der Schule haben wir Entzugserscheinungen. Einer nach dem anderen trudelt in der Aula ein. Es muss etwas passieren. Das kann doch nicht einfach so aufhören. Wir beginnen, Udo-Jürgens-Lieder zu singen. Neue Tradition: das internste Konzert. Dann schlafen einige auf der blauen Matte in der Turnhalle.
Tag 18
Letztes gemeinsames Frühstück vor der AKL-Abreise. Ich bemerke, dass zwei der drei Kekse, die von einem anderen Prank bei 2.6 übrig waren und die ich ins AL-Büro gestellt hatte, inzwischen gegessen wurden. Benedikt: „Die waren ganz ok. Die haben ein bisschen nach Minze geschmeckt.“ Genau. Wegen der Zahnpasta, mit der ich die Füllung ersetzt hatte.