Die Zeit zwischen den Jahren ist bestens dazu geeignet, sich große Fragen zu stellen und sich mit Themen zu beschäftigen, die in der Alltagshektik oft zu kurz kommen — Zeit also für meine Buchempfehlungen 2018. Denn einerseits will sicher so Mancher selbst mal in Ruhe ein Thema beackern, und andererseits wollen wir Kollegen, Freunde und Familie dazu anregen. Der Dezember ist die Zeit der Bücherkäufe; hier stelle ich für Sie einige Hinweise auf Bücher zusammen, die mich im Jahr 2018 bewegt haben.
„Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“ Philosophische Essays
Was können Philosophen zur Flüchtlingsdebatte beitragen? Zehn Essays zeigen: ziemlich viel. Sie können wichtige Begriffe klären, mögliche Begründungen für verschiedene Handlungsoptionen aufzeigen und Beispiele für ein folgerichtiges Argumentieren liefern. Außerdem können sie das Bewusstsein dafür schärfen, welche Akteure welche Aufgaben haben, zum Beispiel die Politik auf nationaler und europäischer Ebene und auch die Philosophie selbst. Die Grenzen der eigenen Kompetenz einmal explizit anerkannt zu sehen, ist wohltuend, und die Ausführungen des Buches Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen? sind nützlich im Hinblick auf das, was die Herausgeber mutig und richtig „normative Orientierung“ nennen.
Helen Schwenken: Globale Migration
Diese Einführung in ein polarisierendes Thema geht von der Prämisse, aus dass wir Migration nicht immer nur als ein Problem verstehen dürfen, das nach Lösungen verlangt. Die weit verbreitete „Problemlösungsorientierung“ der Migrationsdebatte fordere von Wissenschaft, Politik und Bürgern etwas, was keiner leisten könne. Das liege schon daran, dass darüber, was „Migration“ ist, keinerlei Einigkeit herrsche. Das Buch will folglich die methodische Kompetenz des Lesers im Umgang mit Definitionen und Daten, Erklärungsansätzen, Debatten und vorgeschlagenen oder schon in Kraft getretenen ein- oder auswanderungspolitischen Maßnahmen sowie der Frage nach Migration und Geschlecht stärken.
Jaron Lanier: Anbruch einer neuen Zeit. Wie Virtual Reality unser Leben und unsere Gesellschaft verändert
Jaron Lanier ist einer der Erfinder und Vordenker der Virtuellen Realität. In seinem neusten Buch arbeitet er heraus, wie datenintensive, vernetzte Technologien den Spielraum beeinflussen, in dem sich der Einzelne entfalten und in dem er anderen begegnen kann. Lanier bezieht die Virtuelle Realität unablässig auf die sie umgebende, mehr oder weniger vertraute „traditionelle“ Realität. Nur so könne die VR eine Funktion haben und überhaupt sinnvoll gedeutet werden. Lanier wehrt sich entschieden gegen Versuche, die eine gegen die andere Realität auszuspielen oder sie künstlich voneinander zu trennen, sei es konzeptionell oder lebenspraktisch. Hier liegt der wichtige, humanistische Kern des Buches und von Laniers Arbeit überhaupt.
Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst
Die These dieses Buches lautet, dass das soziale Netzwerk Facebook asozial ist. Und dass Facebook und Google die Hauptverantwortlichen dafür sind, dass der Mensch in den letzten fünfzehn Jahren einsamer, die geostrategische Situation brenzliger und die Lage auf unseren Straßen und Plätzen konfrontativer geworden ist. Lanier zufolge ist das Geschäftsmodell der „sozialen Netzwerke“ algorithmisch so umgesetzt, dass negative Emotionen verstärkt werden, weil sie eher in der Lage sind, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Diese negativen Emotionen können von Einzelpersonen, Gruppen oder Staaten geschürt werden. Laniers Rat ist einfach: Im Interesse der eigenen Lebensqualität soll der Leser oder die Leserin die eigenen Accounts löschen. Der Gewinn an Lebensqualität stelle sich fast umgehend ein, und die Anbieter würden über kurz oder lang zum Umdenken gezwungen.
Iris Laner: Ästhetische Bildung
Iris Laner backt in ihrer Einleitung zu Theorien der ästhetischen Bildung keine kleinen Brötchen. Das Thema analysiert sie im Rahmen zeitgenössischer Debatten zu Bildung allgemein sowie zu Bildungs- und Sozialpolitik. Sie beobachtet, dass die künstlerische Betätigung als möglicher Wert an sich, aber auch im Hinblick auf „Kompetenzerwerb und Transfereffekte“ eigentlich schon seit Jahrzehnten zum weithin gewürdigten „Sinnbild für ganzheitliche Erziehung und integrative Bildungsansätze“ geworden ist. Viele Verfechter der ästhetischen Bildung meinen, dass die Welt gerechter wird, wenn sie ästhetischer wird. Was ist davon zu halten?
Ilija Trojanow: Literarische Sprengsätze. Über das Verhältnis von Macht und Widerstand
Das Buch besteht aus drei Teilen: Im Zentrum steht Ilija Trojanows Rede „Macht und Widerstand“, gehalten ursprünglich in September 2015 und dann noch einmal im Oktober 2016 in Villach auf der Veranstaltung, die hier dokumentiert wird. An die Rede schloss sich ein Gespräch zwischen Trojanow und dem Publizisten Michael Kerbler an, das ebenfalls wiedergegeben wird. Eingeleitet wird der Band von Helmut Friessner und Horst Peter Groß im Namen der Veranstalter, des „Universitäts.club|Wissenschaftsverein Kärnten“. Ich habe die Beiträge als verwirrend empfunden – aber vielleicht geht das Anderen nicht so?
Zygmunt Bauman: Retrotopia
Das posthum herausgegebene Buch des Soziologen Zygmunt Bauman beschäftigt sich mit der in vielen westlichen Gesellschaften zu beobachtenden Sehnsucht nach der Vergangenheit, die er Retrotopie nennt. Retrotopie ist die neue Utopie. Warum sehnen sich viele Menschen nach einer vermeintlich intakten, Trost und Geborgenheit spendenden Vergangenheit, die es so vielleicht nie gab? Auch mit diesem Buch hatte ich es schwer, denn Vertreter jener Gruppen, gegen die sich Baumans Zorn richtet, kommen nicht zu Wort. Weder Unternehmer noch jene kapitalistisch verseuchten Verbraucher, die sich mit Gadgets einer „illusorischen Gratifikation phantomartiger Bedürfnisse“ hingeben, haben bei Bauman eine Stimme. Dass durchgehend über die Köpfe von Handelnden und Betroffenen hinweggeredet wird, lässt das Buch hinter die partizipativen Ideale zurückfallen, denen es sich verschreibt. Als intellektueller Entwurf zwischen Sozialismus und Katholizismus ist es freilich der Aufmerksamkeit wert.
Nancy Hünger: Ein wenig Musik zum Abschied wäre trotzdem nett
Was mich bei Nancy Hüngers Gedichten so erschüttert, ist das Menschliche. Nicht die viel zu leicht herausposaunte Menschlichkeit mit ihrer bürokratischen, bei Nacht ins Mordlustige kippenden Lust am Prinzipiellen, die jeden einzelnen Menschen nur deshalb schätzt, weil er auf ein Allgemeines zu beziehen ist. Nein, diese Menschlichkeit meine ich nicht, denn mich stört, dass sie den Menschen nur als Individuum sieht und nicht als Singularität. Nur als Einzelfall, nicht frei. Bei Hüngers Gedichten ist das anders. Nancy Hünger hat ein Gespür für den Menschen, das Gegenüber. Und das wird offenbar gerade dann besonders geweckt, wenn dieses Gegenüber sich nicht von Angesicht zu Angesicht zeigt. Nancy Hünger zeigt uns das Gesicht des Abwesenden.
Krachkultur: Das Deutschland-Heft
Schafft Deutschland sich ab – oder muss es sterben, damit wir leben können? Kaum ein Thema ist derzeit so ideologisch kontaminiert wie alles, was mit „Deutschland“ zusammenhängt. Im politischen Diskurs greift eine Sprache um sich, die andere verstummen lassen will. Immer häufiger geben jene den Ton an, die gar nicht diskutieren wollen. Auf die Floskel, das würde man ja wohl noch sagen dürfen, folgt meist Unsägliches. Ein Periodikum wie die „Krachkultur“, das seine oppositionelle Gesinnung schon im Titel zur Schau trägt, kann kaum in den Verdacht geraten, Leitkultur zu verbreiten. „Krachkultur“ will aufrühren – durch Literatur. Über zwanzig Autorinnen und Autoren verschiedener Zeiten und Herkünfte geben direkt oder indirekt Auskunft über die Lage des Landes, das, so scheint es, gerade nicht weiß, wohin mit sich selbst.
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Christophe Fricker: 111 Gründe, England zu lieben
OK, dieses Buch hat mich bechäftigt, weil ich es geschrieben habe … Es ist meine Erkundungsreise durch England in Zeiten des Brexit. Warum jetzt England? Ganz einfach: Wir lieben England halt. Seine Bewohner stehen bewundernswert diszipliniert Schlange und haben sogar den Elfmeterfluch besieht. Die Metropole London begeistert uns, und die Cotswolds, Cornwall oder der Lake District sind ein idyllischer Sehnsuchtsort. Aber mit John Virtue, Northampton, Dubstep und Fred Dibnah kommen auch Themen zur Sprache, die vielleicht etwas abseits liegen.