Beschleunigung ist überall, und dank Hartmut Rosa auch in aller Munde. Beschleunigung ist für viele ein Ergebnis des technologischen Fortschritts. Wer so denkt, sieht die Kunst gern als Gegenpol. Ästhetik und Entschleunigung werden dann beinahe zu Synonymen (wenn man mal vom futuristischen Geschwindigkeitsrausch, rebellischen Fluchtimpulsen und postmoderner Betriebsnudelei absieht). Ich möchte herausfinden, inwiefern bei Ernst Jünger Beschleunigung eine Rolle spielt — für seine Gesellschaftskritik und seine Poetik.
Hartmut Rosa liefert eine soziologische Analyse zahlreicher Phänomene und Tendenzen, die der Autor, Krieger und Entomologe Ernst Jünger in seinen großen Moderne-Essays beschreibt. Rosa und Jünger gehen davon aus, dass man aus der neuzeitlichen Welt, in der es Technik und Beschleunigung gibt, nur unter großen Schmerzen und Opfern aussteigen kann. Sie sind sich – implizit – auch einig, dass Ästhetik und Beschleunigung in der Moderne nicht unbedingt im Widerspruch zueinander stehen. Jünger benennt viele Entwicklungen, die die Moderne kennzeichnen (Automatisierung, Spezialisierung, ein neues Verständnis von Individualität, ein neues Verhältnis von Politik, Wirtschaft und Militär zueinander). Rosas Beschleunigungstheorie macht es möglich, an all diesen Phänomenen ein Element der Beschleunigung zu erkennen und sie insgesamt als einen Prozess der Beschleunigung aufzufassen.
Sehr unterschiedlich gehen Rosa und Jünger an die Frage heran, wo Grenzen und vielleicht sogar Zielrichtungen des neuzeitlichen Beschleunigungsprozesses liegen. Für Rosa gibt es im Wesentlichen fünf Formen der Entschleunigung bzw. Beharrung: natürliche Geschwindigkeitsgrenzen, Entschleunigungsoasen, Entschleunigung als dysfunktionale Nebenfolge sozialer Beschleunigung, funktionale (letztlich wieder beschleunigende) und ideologische (oppositionelle) Entschleunigung sowie strukturelle und kulturelle Erstarrung.
Dass die Entschleunigung für Jünger bedeutsam ist, zeigt Jan Robert Webers Ästhetik der Entschleunigung: Ernst Jüngers Reisetagebücher, einer Biographie Ernst Jüngers als eines Reisenden. Weber interpretiert Jüngers zahlreiche Reisen der 1930er bis 1960er Jahre als Entschleunigungsversuche. Seine Definition von Entschleunigung deckt sich am ehesten mit Rosas zweiter oder vierter Form: Jünger suchte Entschleunigungsoasen und begründete seine Entschleunigung teils ideologisch.
Ich habe mich in den letzten Monaten ausführlich mit dem Thema Ernst Jünger und die Beschleunigung beschäftigt. Schnelligkeit, Zeitbewusstsein, Geschäftigkeit, rationale Zeitauffassung, Gegenwartsbezogenheit – all das spielt für Jünger eine wichtige Rolle. Jünger polarisiert, weil er in extrem langen Zeiträumen denkt und weil er zeigt, wie vieles Neue und Moderne schon einmal da war. Jünger hat dem Zusammenhang zwischen Zeiterfahrung und Zeitmessung ein ganzes Buch gewidmet, Das Sanduhrbuch. Jünger nennt die Moderne die Zeit der „totalen Mobilmachung“, und in diesem Namen schwingt Beschleunigung mit. Jahrzehntelang setzte sich Jünger mit Ruhe und Bewegtheit auseinander. In einem Aufsatz über Ernst Jünger und die Autobahn habe ich das schon verfolgt.
In einem nächsten Schritt will ich zeigen, dass es sich lohnt, „Be- und Entschleunigung“ in der Untersuchung von Jüngers Werken ganz eng zu definieren. Jüngers Positionen sind gerade deshalb heute eine Untersuchung wert, weil sie auf einer Diagnose beruhen, die oberflächlich betrachtet sehr nah an der modernen Soziologie und sehr nah an weit verbreiteten Erfahrungen ist, und weil sie zugleich in eine Prognose übergeht, die sich ebenso markant von beidem abhebt. Das wird aber erst auf der Basis einer engen Definition von Be- und Entschleunigung recht deutlich: Be- und Entschleunigung sind die Veränderung der Geschwindigkeit, mit der ein Einzelner oder eine Gruppe von Menschen handelt oder die jeweilige Umwelt wahrnimmt. Diese Veränderung mag nur vorgestellt oder tatsächlich realisiert sein, und sie mag das Resultat bewusster Anstrengungen eines Einzelnen oder einer Gruppe sein oder sich aus übergeordneten historischen Entwicklungen gleichsam zwangsläufig ergeben. Genau das bringt Jünger insgesamt erstaunlich selten zur Sprache, wenn auch einige Male sehr pointiert. Mein Beitrag zu Rosas Beschleunigungstheorie soll auf der Basis einer Jünger-Lektüre der Versuch sein, die Entwicklung moderner Technik selbst als Quelle sozialer Entschleunigung in Betracht zu ziehen. Stay tuned – in Kürze mehr!
Nachtrag im November 2015: Der Aufsatz ist inzwischen erschienen. Details: Christophe Fricker, “Ästhetische Beschleunigung — technische Entschleunigung? Die Zeitlichkeit von Autorschaft und Arbeit bei Ernst Jünger.” In: Technische Beschleunigung — ästhetische Verlangsamung? Mobile Inszenierung in Literatur, Film, Musik, Alltag und Politik. Hg. v. Jan Röhnert. Weimar: Böhlau, 2015. S. 209-225.