Drei Städte im Herbst. Drei Gedichte über Potsdam, Cottbus und Halberstadt. Hier sind die Gedichte — und die Geschichten dazu.

Vor Jahren eine Ausstellung mit Bibel-Illustrationen von Chagall in Cottbus. Ich war zu Besuch bei Freunden, hatte den Tag über, als sie arbeiteten, nichts zu tun und probte im Konservatorium Klavierstücke des weithin unterschätzten polnischen Komponisten Karol Szymanowski. Lyrische Intensität, harmonischer Wagemut, das Verglühen einer Epoche, das Verschwinden, das immer noch greifbar ist, spielbar. Aber nicht stundenlang, ich ging also zu Chagall. Besonders beeindruckte mich die Zeichnung eines Engels, nur wenige Striche, und etwas Gelb. Schon sind nicht mehr Striche zu sehen, sondern das Gesicht eines Engels taucht aus der Seite auf und schwebt hier im Osten Deutschlands, an der polnischen Grenze vor mir. Ein Engel.

An dem Oktobersonntag wart ihr beschäftigt.
Ich sah in einer kleinen Ausstellung
Chagalls Engel.

Einige gelbe Linien und ein Lächeln.
Ich erinnere mich an ihn,
und ich schreibe an dich.

 Einen Herbst lang, einen anderen Herbst lang, wohnte ich in Potsdam, im Haus des Kunsthistorikers Wilhelm Fraenger. Alles ist dort so, wie er es in den Fünfziger Jahren hinterlassen hat. Die Bibliothek war gerade erfaßt worden, in der Küche benutzte ich die Tassen und Teller, die zwar Sprünge hatten, aber durch die Jahrzehnte an Erfahrung gewonnen zu haben schienen. Unter dem Dach hing der Punching Bag meines Mitbewohners. Tagsüber arbeitete ich, eine dreiviertel Bahnstunde entfernt im Zentrum der Nation, bei der großen Fahne. Spät abends schlich ich im Dunkeln zurück, über altes Pflaster. Solche Heimatlichkeit.

Tschaikowskyweg ist ein Widerspruch in sich.
Die Latten der Gartenzäune schwarz wie Oboen.
Kopfsteinpflaster und Sonntagszeitungen.

Wo wohnte Frau von Meck, und sah sie
aus dem Fenster? Selbstmord und ein
langsamer Satz, den sie sich wiederholt.

Im Museum zur Geschichte von Halberstadt gibt es eine steinzeitliche Leiche, auf die man Steine gelegt hatte, damit ihre Seele nicht entweiche und Unheil stifte. Warum müssen Seelen immer umherstreifen, nicht einmal im Tod können sie ruhig sein. Warum sind Knochen so friedlich, selbst wenn sie zusammengeschlagen werden? Die Frage schien in der so mitgenommenen Stadt Halberstadt besonders brennend.

Damit die Seele der Steinzeitleiche kein Unheil stifte,
legten die Überlebenden Steine auf den Leichnam.
Ausschnitte aus Konventionen.

Die Seele, als sie in die Zukunft ging,
hat die Steine verloren.
Knochen sind friedlicher.

 

Drei Gedichte über Potsdam, Cottbus und Halberstadt — erschienen in Signum, Ort der Augen und Osiris. Weitere Einzelheiten auf Anfrage, weitere Gedichte auf Anregung.

 

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