Gesotten oder gesonnen?
Unkulinarische Beobachtungen zu Hummer und Schmerz bei David Foster Wallace und Ernst Jünger
„Denken Sie an den Hummer“ war der Artikel überschrieben, den der amerikanische Autor David Foster Wallace im August-Heft 2004 der Feinschmecker-Zeitschrift Gourmet veröffentlichte. Wallace war durch zwei düster-ironische Romane über die Perspektivlosigkeit des Lebens im heutigen Amerika und durch eine Reihe von experimentierfreudigen Kurzgeschichten bekannt geworden. Zugleich schrieb er eine erstaunliche Anzahl von Reportagen für die führenden Zeitschriften der USA – über so verschiedene Dinge wie Tennis, John McCain und die Porno-Industrie. Gourmet verabredete mit ihm, daß er einen Beitrag über das Hummer-Festival im nordöstlichen Bundesstaat Maine schreiben solle. Wallace tat es in der ihm eigenen Art.
Er verbrachte mit seiner Freundin und seinen Eltern mehrere Tage dort und sammelte Eindrücke, machte Notizen. Der Beitrag, den er ablieferte, war anders als alles, was Gourmet normalerweise brachte – lang; voller griechisch-stämmiger Fremdworte; ausgestattet mit Fußnoten und Fußnoten zu Fußnoten. Die Provokation wäre nicht größer gewesen, wenn er ein Hummer-Rezept an eine Zeitschrift für postmoderne Theorie geschickt hätte.
Vor allem bestand sein Beitrag zum überwiegenden Teil aus Reflexionen zur Schmerzempfindlichkeit des Hummers. Wallace begnügte sich nicht damit, wie etwa der populäre Reiseautor Bill Bryson, die Tumbheit und den verschrobenen Lokalpatriotismus der amerikanischen Provinz aufzuspießen (obwohl er auch das tat, mit einer Reihe rabiater Adjektive). Er griff frontal eine Haltung an, die alle Fragen nach dem Leiden einer Kreatur entweder ignoriert oder durch vorschnelle, pseudo-wissenschaftliche Antworten zu den Akten legt. Denn Hummer werden natürlich in den allermeisten Fällen lebend zubereitet – Wallace weist darauf hin, daß der Hummer genau deshalb dem Frische-Bedürfnis vieler Konsumenten entgegenkommt. Der Autor überprüft ethische und neurologische Argumente und kontrastiert deren vermeintlich abgehobene Abstraktion wieder und wieder mit dem so augenscheinlichen Leiden eines Tieres, das gegen den Deckel des Kochtopfs schlägt und sich aus dem kochenden Wasser zu hieven versucht. Darüber gerät ihm das Spektakel eines (großen) Volksfests zum gruseligen mittelalterlichen Folterspiel, und er spekuliert, daß spätere Zeiten womöglich voller Ekel darauf zurückschauen werden.
Fast genau achtzehn Jahre vor diesem ungewöhnlichen Plädoyer für den Tierschutz hatte Ernst Jünger, der durch seine Tagebücher aus dem Ersten Weltkrieg und seine Schriften über die Abhärtung des modernen Menschen gegenüber dem Schmerz, durch den Begriff der „Totalen Mobilmachung“ und seine Agitation für einen revolutionären Umsturz in der Weimarer Republik bekannt geworden war, einen Hummer zubereitet. Im dritten Band seines Tagebuches Siebzig verweht notiert er am 2. September 1985, mithin im Alter von neunzig Jahren: „Auch der Hummer ist zu würdigen. Er bleckte seine gezähnten Scheren und sah mich bösartig an. Seine Augen glänzten wie Jettperlen.“ Jünger ergänzt: „Dabei habe ich ihn human behandelt – gleich getötet, und nicht ins kochende Wasser geworfen oder langsam gesotten, wie es die Feinschmecker tun.“ Die Formulierung, mit der Jünger seinen Tagebuch-Eintrag eröffnet und die derjenigen von Wallace so erstaunlich ähnlich ist, zeigt, wie weit er sich von seiner eigenen Vergangenheit entfernt hat.
Diese Gedanken finden sich ausgeführt in der erweiterten Neuauflage des Buches Anarch im Widerspruch, hg. von Tobias Wimbauer, Hagen: Eisenhut, 2010. Das Buch ist in jeder Buchhandlung erhätlich oder bestellbar, und auch bei Amazon.
Rezension von Buch und Beitrag
Eine neue Rezension des IFB zu Christophe Frickers Essay über den Hummer bei Ernst Jünger: Der Beitrag “führt mit leichter Feder zu einer Kardinalfrage des Werkes von Jünger hin, nämlich zum Problem des Schmerzes. Diese wird hier erörtert im vergleichenden Zugriff auf Jüngers berühmten Essay, der mit einem Zitat aus einem Kochbuch über den Tod der Krebse im kochenden Wasser einsetzte, und einem neueren Essay des amerikanischen Schriftstellers David Foster Wallace, der sich mit dem Schicksal der Hummer in der Eßkultur auseinandersetzte und selbst an der Welt zerbrach (siehe seine Selbsttötung 2008).”
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- Hummer-Foto von Shelley Ginger