„Übertrag einem Genie Verantwortung, und er verlässt dich. Ganz schnell.“ Diese Äußerung über Genie und Verantwortung stammt von Mehmet Scholl, aus der Halbzeitpause des Spiels Schweden-England. Der ehemalige Bayern-Spieler kommentierte die Partie in der ARD. Gemünzt ist Scholls Ausspruch auf Zlatan Ibrahimovic, den schwedischen Spielmacher. Ibrahimovic ist einfallsreich, laufstark und ganz klar das Alpha-Tier des schwedischen Teams. Er ist so begabt, dass einige Spieler im Geheimen offenbar sagen, ohne ihn würde die Mannschaft bessere Leistungen bringen.
Scholl spielt mit den Begriffen Genie und Verantwortung auf das zentrale Thema für die Kunst im 20. und 21. Jahrhundert an. Seine scharfsinnige These birgt daher Stoff für sicher gleich mehrere poetologische Erörterungen. Auf der einen Seite steht der genialische, aus dem Sturm und Drang herkommende Einzelgänger, auf der anderen der gesellschaftlich orientierten Mitdenker, der heute als vormodern oder engagiert gilt. Politische Autoren werden oft scheel angesehen. Sie kompromittieren sich, heißt es dann.
Meist sind Genie und Verantwortung säuberlich geschieden. Genies machen ihr Ding, werden vielleicht aus der Ferne bewundert und entfalten irgendwann eine erstaunliche Wirkung. Arthur Rimbaud zum Beispiel, oder Georg Trakl. Die Verantwortlichen übernehmen dagegen ihre öffentliche Rolle bewusst und nehmen sie regelmäßig wahr. Man soll auf sie zählen können. An Thomas Mann und meinetwegen Günter Grass könnte man hier denken, vielleicht auch an Hermann Kant oder Peter Hacks.
Mehmet Scholls Aussage beleuchtet eine seltenere Form, die aus literarischer Sicht besonders interessant ist. Er spricht vom Übertritt eines Künstlers von der einen Riege in die andere. Gottfried Benn beispielsweise übernahm 1933 in der Preußischen Akademie der Künste Verantwortung. Erst wenige Jahre zuvor war aus dem Ästhetizisten ein auch politisch aufmerksamer Autor geworden. Problem: Er übernahm Verantwortung und „verlässt dich“, wie Scholl es ausdrückt. Sein Genie verließ ihn, er verließ die Welt der wirklichen zwischenmenschlichen Verantwortung. Und seine neue offizielle Rolle spielte er auch nicht lange. Er ging vielleicht nicht „ganz schnell“, aber ziemlich schnell.
Und Ibrahimovic? Spielte stark, bereitete die beiden schwedischen Tore vor. Aber sein Team verlor. Und er scheidet mit aus.