Deutschland wird Weltmeister. Völlig klar. Nichts dran zu deuteln. Kaum was anderes ist so klar. Höchstens vielleicht, dass Brasilien im Protest-Chaos versinkt.
Über Brasilien sagten böse Zungen ja immer, es sei das Land von morgen, und das werde es auch morgen noch sein. Immer große Versprechungen, aber dann funktionieren die Fabriken nicht, oder die Stadien werden nicht fertig.
Aber gilt für Deutschland nicht dasselbe? Immerhin ist Franz Beckenbauers legendärer einsamer Gang über den römischen Rasen jetzt schon ein Vierteljahrhundert her. Andreas Brehme hat Deutschland durch einen verwandelten Foulelfmeter zum Weltmeister gemacht. Und seitdem heißt es: Deutschland wird Weltmeister, ganz bestimmt, morgen.
An diesem Traum hielten sich viele Fußballfans während der düsteren Vogts-Jahre fest. Bis mir mein Germanistik-Professor Carl Pietzcker erzählte, Deutschland sei gar nicht Weltmeister, und werde es auch nie. Der Professor hatte zwar mal Sport studiert, aber er war ein alter 68er, deshalb war er kein Fahnenschwenker. Aber Fakten sind doch Fakten? Deutschland war Weltmeister – völlig klar?
Er unterzog mich einer qualvollen Fragerunde: „Was ist Deutschland?“ Na, wir alle. „Und Weltmeister in was?“ Hallo? Fußball! Und so ging das weiter.
Sein Punkt war: Mit „Deutschland“ meinen wir die deutsche Fußball-Nationalmannschaft der Männer. Mit „Weltmeister“ meinen wir, dass diese Mannschaft ein bestimmtes Turnier gewonnen hat.
Völlig klar? Im Nachhinein schon. Aber im Eifer des fahnenschwenkenden Fußballgefechts vergisst man schon einmal, wieviel man mit einem klaren Satz verschweigt – und wieviel man, bewusst oder unbewusst, in großen Worten zusammenfasst.
Nur ein spielverderbender Pedant würde zurückfragen: „Weltmeister? Ich persönlich war 1990 nicht Weltmeister. Waren Sie da Weltmeister?“ Das ist so wie Leute, die dem Kellner im Restaurant antworten: „Natürlich können Sie abräumen. Aber Sie sollen oder dürfen noch nicht.“
Solange jeder weiß, was mit einer Aussage oder einer Frage gemeint ist, darf man das eine Wort statt des anderen gebrauchen. „Deutschland“ statt „deutsche Fußball-Nationalmannschaft der Männer“ sagen. Der Germanistik-Professor nennt das eine Synekdoche.
Das kann gutgehen und eine große Durchschlagskraft entfalten („Wir sind das Volk“) oder auch ganz bös in die Hose gehen („Wir sind Papst“).
Dankbar bin ich meinem 68-Professor für die Vorlesung über Rhetorik im Fußball trotzdem: Er hat mir gezeigt, dass ganz klare, scheinbar sachliche Aussagen ganz schön polemisch sein können.
Und jetzt weiß ich, wieviel Spaß man mit Rhetorik im Fußball haben kann. Deutschland wird Weltmeister!