Warum Interviews? Die Frage stellt sich eigentlich kaum noch jemand. In den letzten Jahrzehnten sind Interviews zum zentralen Genre der Auseinandersetzung mit Prominenten geworden, besonders auch mit Künstlern und Schriftstellern. Wo nicht klar ist, was ein Gemälde oder ein Roman bedeutet, fragt man nach und versucht im Gespräch, Bedeutungen zu verstehen. Auf der anderen Seiten nutzen Künstler die „Verlautbarungsebene“ von Interviews, um im Kulturbetrieb zu bestehen. Erfolgreiche Autoren und Künstler, die aus Prinzip keine Interviews geben, zum Beispiel J.D. Salinger oder Thomas Pynchon, Dave Chappelle oder Lisa Frank, sind die Ausnahme.

Eins der besonders bemerkenswerten Künstlerinterviews des späten 20. Jahrhunderts führten ein Autor und ein Interviewer, die große Vorbehalte gegen Interviews hegten. Es handelt sich um das Gespräch zwischen Ernst Jünger (1895–1998) und André Müller (1946–2011) am 8. November 1989, auf dessen Basis in DIE ZEIT ein Interviewtext erschien. Vier weitere Treffen folgten, von der die Öffentlichkeit kaum oder gar keine Notiz nahm. Das änderte sich erst, als ich die Tonbandaufzeichnungen dreier Gespräche, Müllers Vor- und Nachbereitungsnotizen, den Briefwechsel Jünger/Müller und andere Materialien veröffentlichte.

Die Gespräche deckten ein breites Themenspektrum ab, das von der Zeitgeschichte (Erster und Zweiter Weltkrieg, Adenauer-Ära, deutsch-französische Aussöhnung) über Technologie, Währungen und Tierwelt bis hin zu Jüngers Seelen- und Alltagsleben im hohen Alter reichte. Zwar lassen sich erstaunlich viele Äußerungen Jüngers direkt mit Stellen in seinen veröffentlichten Werken abgleichen, doch entlockte Müller ihm durch persönliche Fragen auch eine Reihe bisher unbekannter Informationen.

Müller ging gleich in die Vollen und fragte fast unvermittelt, ob Jünger als junger Mann sterben wollte. Jünger geht ebenfalls gleich in medias res und spricht über die beiden bekanntesten und umstrittensten Passagen in seinen Schriften, die ‚Burgunderszene‘ und die Schilderung einer von ihm beobachteten Erschießung. Obwohl also beide Gesprächspartner eigentlich wenig von Interviews halten, erweisen sie sich als Interviewroutiniers. Jünger weiß, was viele Medienleute beschäftigte, und er geht Kontroversen nicht aus dem Weg. Müller hielt sich an den beiden Passagen freilich nicht auf und steuerte in großen Bögen die Themen an, die ihn vor allem interessierten: Freiheit, Verzweiflung, existenzielle Extreme.

Fast beispiellos kühn versuchte er von Jünger zu erfahren, ob dieser Juden in der Gaskammer immer noch für letztlich freie Menschen hielt und ob er der Schoah weltgeschichtlich einen Sinn zusprach. Ich habe dieses Thema in einer separaten Analyse untersucht.

In meinem neuen Aufsatz untersuche ich, was Jünger und Müller am Genre Interview genau kritisierten, welche Vorstellungen eines besseren Gesprächs es ihnen erlaubten, in einen intensiven Austausch zu treten, und ob sich ihre Hoffnungen erfüllten. Diese medientheoretische Analyse auf der Basis eines multimedialen Quellenkorpus mündet in Schlussfolgerungen, die auf andere Interviews und auf Gespräche in einem weiteren Sinn übertragbar sind.